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Fussballstammtisch => Ligen International => Thema gestartet von: Beorn am 18. Oktober 2012, 01:20:39

Titel: Serie B Italien - ein Hoppingbericht
Beitrag von: Beorn am 18. Oktober 2012, 01:20:39
Meinen Italienurlaub nutzte ich unter anderem zum Besuch zweier Begegnungen der Serie B:

US Grosseto - Sassuolo Calcio

AS Livorno - Spezia Calcio

Erstgenannte Partie war das Treffen des Tabellenletzten der Serie B gegen den aktuellen Tabellenführer der Liga, also eine durchaus reizvolle Konstellation.

Grosseto ist eine Stadt mit etwas über 80 000 Einwohnern, Provinzhauptstadt der südlichen Toskana und Hauptort der Maremma. Der Verein ist tief in den italienischen Manipulationsskandal verwickelt, daher wurden ihm vor Saisonbeginn sechs Punkte abgezogen. Trotz eines Sieges und vier Unentschieden hat der Verein bislang daher erst einen Punkt und steht, wie erwähnt, auf dem letzten Platz. Die Querelen um den Verein mögen zu dem sehr schwachen Besuch beigetragen haben.

Sassuolo ist etwa halb so groß wie Grosseto, eine Industriestadt in der Poebene, die zuletzt von der Wirtschaftskrise und von Gewerbeverlagerung erheblich betroffen war. Doch im Fußball ist man erfolgreicher, der Verein führt zur Zeit die Serie B souverän an.

Das Stadion war mitten in der Stadt gelegen, vom Bahnhof aus mit einem kurzen Fußmarsch erreichbar. Auch Parkprobleme gab es keine, ich konnte mich problemlos in der Nähe abstellen. Allerdings wird wohl bei Ligaspielen das Umfeld komplett abgesperrt, alle Zugangsstraßen waren von der Polizei abgeriegelt.

Am Stadion angekommen erwartete mich eine unangenehme Überraschung, es gab keine Kassenhäuschen! Karten konnten ausschliesslich in örtlichen Bars oder Tabakläden gekauft werden. Mit meinen wenigen Worten italienisch und viel Gestik erfuhr ich aber doch schliesslich einen Weg zu einem solchen Tabakladen, verpasste aber leider die Zeit vor dem Spiel und die Anfangsphase.

Der Zuschauerandrang war vergleichbar mit einem Heimspiel der Sportfreunde: Etwa 1800 Besucher, eine Ultragruppe in der Stärke der TSC. Die Gäste, immerhin Tabellenführer, brachten etwa zwanzig Mann mit einer Zaunfahne und einem Schwenker mit. Viertligakulisse im Zweitligaspiel.

Die Curva war eine Stahlrohrtribüne, der Großteil der Zuschauer verfolgte die Begegnung sitzend. Die kleine Ultragruppe sang in der ersten Halbzeit, wurde aber im Verlauf der zweiten Hälfte recht ruhig.

Dies lag auch am Spielverlauf: Der Favorit ging vor und nach der Pause durch seinen ghanaischen Stürmer mit 2:0 in Führung. Als in der Schlußphase Grosseto den Anschlußtreffer erzielte wachte das komplette Publikum auf. Für mehrere Minuten war es sehr laut im Stadion, gingen alle Besucher um mich herum völlig aus sich heraus. Doch der Tabellenführer schaukelte die Begegnung nach Hause ohne im kompletten Spiel einen wirklich souveränen Eindruck hinterlassen zu haben. Die Begegnung hatte meines Erachtens allenfalls deutsches Drittliganiveau.

Stadionwurstfans können um den Ground einen weiten Bogen machen: Für die komplette Curva gab es einen einzigen Imbiß! Ein Lieferwagen mit aufgeklappter Seite, zwei Verkäufer, das war alles! Es gab Cola und Wasser in Bechern, Pistazien und Chips, mehr nicht. Der Wagen war derart dicht umlagert dass ich mich, wie viele andere, an einem Wasserhahn bei der Toilette erfrischte. Bei strahlendem Sonnenschein und fast dreissig Grad auch durchaus nötig. Die Toiletten wären in einem deutschen Stadion nicht vorstellbar, Details erspare ich mir ...

Immerhin hatte das Stadion eine Videoanzeige, eine ordentliche Haupt- und Gegentribüne. Ganz im Gegensatz zu Livorno!

Der Spielplan meinte es gut mit mir, das Küstenderby zwischen Livorno und Spezia war das Montagabendspiel unter Flutlicht. Schon am frühen Nachmittag machte ich mich in die Hafenstadt auf, allein die Anfahrt auf der Via Aurelia war schon die Reise wert. Das Stadion war schon von der Ausfahrt aus deutlich sichtbar, superzentral ebenfalls gelegen.

Auf dem Stadionparkplatz stellte ich mich gleich beim Haupteingang ab, was mir bei der Abreise noch einen kurzen Moment der Irritation einbringen sollte. Denn dieser Parkplatz wurde für Polizei und Rotes Kreuz verwendet und war ansonsten komplett abgesperrt. Weiß mans?

Das ich so früh angereist war lag auch daran, dass ich mir einen eigenen Eindruck von jener Stadt machen wollte, vor der mich mehrere Menschen dringlich gewarnt hatten: "Fahr da nicht hin, die Stadt ist soooo häßlich!"

Das mag dem kunstbeflissenen Toskanatouristen wohl so erscheinen, der sich eher malerische Landschaften und Städte wie Freilichtmuseen wünscht. Ich mochte die Stadt! Keine Touristeninszenierung, eine Hafenstadt in der gewohnt, gelebt, gearbeitet wird. Eine schöne Hafenpromenade, viele Parks und jede größere Wand mit Graffiti versehen. Mir gefiel es.  [daumihoch]

Livorno ist die Gründungsstadt der italienischen kommunistischen Partei, gilt heute noch als "rot", wie übrigens auch etliche andere toskanische Städte. Im zweiten Weltkrieg schwer bombardiert gibt es dort einfach weniger historische Bausubstanz als in anderen italienischen Städten, was eben der deutschen "Toskanafraktion" zu missfallen scheint.

Die "Brigate Autonome Livornesi" war einmal eine der bekanntesten Ultragruppen Europas, vor allem weil sie als konsequent linksorientiert und antifaschistisch galt. Durch massive Stadionverbote und erheblichen Druck der Obrigkeit, bis hin zu damaligen Regierungsbündnissen unter Berlusconi, ist die BAL inzwischen nicht mehr existent, auch wenn sie sich nicht offiziell aufgelöst hat. Es gibt aber Nachfolgegruppen.

Der Gegner, Spezia Calzio, kommt aus der ligurischen Küstenstadt La Spezia, es war also ein Spiel mit Derbycharakter. Das war auch im Spiel zu sehen, die Gästekurve wirkte voller als zwei Tage zuvor das komplette Stadion in Grosseto!

Immerhin gibt es in Livorno eine "Biglietteria", also Kassenhäuschen. Diese lagen allerdings weitab vom Stadion und waren über verschlungene Wege erreichbar. Hier war mein schlechtes italienisch erneut ein Hindernis, doch waren alle Personen die ich ansprach emsig bemüht mir Wege zu erklären.

Für Nichtitalienkenner: Seit dem Verbot des Kartenverkaufs durch die Ultragruppen muss man beim Kartenkauf den Personalausweis zeigen. Dieser wird beim Stadioneintritt mit der Karte abgeglichen, dann darf man erst hinein. In Grosseto war dies meinem Ordner ganz egal, in Livorno war man genauer. Doch in beiden Stadien wurde ich nicht abgetastet, ich scheine einen sehr harmlosen Eindruck zu machen.  ;)

Das Stadio Armando Picchi gehört der Stadt Livorno. Und diese lässt es, so zumindest mein Eindruck, konsequent verfallen! Bei aller Liebe zu traditionellen Grounds: Wenn der Beton der Haupttribüne derart abgeplatzt ist, dass die Baumatten sichtbar werden, dann ist eigentlich dringender Sanierungsbedarf! Die Curva Nord, Standort der meisten Heimzuschauer, präsentierte sich noch schlechter: Angetretene Aufgänge, superenge Wendeltreppen hinauf auf die Ränge, verranzte Sitzschalen, natürlich auch keinerlei Anzeigetafel, das trug schon deutliche Verfallserscheinungen. Die Klos waren noch garstiger als in Grosseto, und das will was heissen!

Livorno war an dem Abend Tabellenzweiter der Liga, Spezia Aufsteiger im Tabellenmittelfeld. Doch hatte der vermeintliche Favorit einen "gebrauchten Abend": Spezia spielte die Heimmannschaft an die Wand! Erst beim Stand von 0:5 kamen die Livornesi durch einen Elfmeter zum Ehrentreffer. In der ersten Halbzeit gab der Schiedsrichter beim Stand von 0:0 einen Elfmeter für Spezia. Der Heimtorwart hatte beim Herauslaufen den gegnerischen Stürmer von den Beinen geholt. Dabei verletzte er sich selbst so schwer, dass er mit dem Krankenwagen aus dem Stadion gefahren werden musste. Der Ersatztorwart konnte den Elfer nicht parieren, hinterliess generell keinen guten Eindruck, und der Untergang der Heimmannschaft nahm ihren Lauf.

Spezia spielte einen exzellenten Fußball! Laufstark, sehr gute Raumaufteilung, technisch gut. Die geschockte Heimmannschaft machte es ihnen allerdings einfach, doch war Spezia schon bis zum Führungstreffer das erkennbar bessere Team. Was die "Aquilotti" (Adlerträger) spielten, gehörte zum besten Fußball, den ich in diesem Jahr gesehen habe.

In beiden Kurven war sehr viel Leben. Vor Anpfiff gab es auf beiden Seiten Pyroeinsatz, zu Beginn dominierten gegenseitige Beschimpfungen. Beim Elfmeter ging die Nordkurve steil, da flogen auch mal Bengalos auf die Laufbahn. Doch die beeindruckendste Phase war das Ende der zweiten Halbzeit: Als das eigene Team aussichtslos zurücklag sangen die Ultras aus Leibeskräften und fast die gesamte Curva sang mit! Als nach Abpfif das Team in die Kurve ging, forderte diese die "Welle", was aber dann doch nicht gemacht wurde.

Sechs Tore, je einen Elfmeter und einen Platzverweis und eine Stimmung die ich in deutschen Stadien nur gelegentlich angetroffen habe, der Besuch hatte sich voll und ganz gelohnt und war auch insgesamt drei Stunden Anfahrt wert.

Wieder in Deutschland angekommen besuchte ich am Wochenende Freunde in der Nähe von Frankfurt und wurde von diesen zum Lokalderby in der Verbandsliga zwischen der SG Oberliederbach und dem VfB Unterliederbach eingeladen. Über Jahre hinweg war der VfB das dominierende Team, spielte einige Jahre auch in der damaligen Hessenliga. Doch das aktuelle Derby ging an den weit besser gestarteten Lokalrivalen aus der Nachbargemeinde. Bei strömendem Regen endete das Spiel 4:3 für die O'bächer und war sehr unterhaltsam. Leider hatte dieses Spiel gerade mal 150 Zuschauer.

Sechzehn Tore in drei Spielen, die Auszeit vom Ligaalltag mit den Sportfreunden war fußballerisch durchaus gut gefüllt. Und der Besuch in Livorno war eines meiner interessantesten Spiele in den ganzen letzten Jahren überhaupt.

Ich kann verstehen, warum manche unserer Ultras am Wochenende "mal eben" nach Italien fahren. Den dortigen Fußball erlebt man anders als in Deutschland. Ich kann ihn es nur empfehlen, es einmal auszuprobieren!
 [wieegeil]