Diesmal erreichten mich gleich zwei Berichte.
Zuerst ein etwas längerer Reisebericht von Holger (Eiserner Messias)
[Ausschließlich fußballinteressierte beginnen bitte erst ab Kapitel “Sonntag, Fußball” mit der Lektüre.]
Was ist der Nachteil daran, dass sich der Freundeskreis ausbildungs-, berufs-, studiums- oder familiengründungsbedingt irgendwann im Laufe des zweiten Lebensjahrzehnts in ganz Deutschland und sogar darüber hinaus verteilt? Man sieht sich nur noch unregelmäßig und verliert unter Umständen den Kontakt zu dem ein oder anderen. Was ist der Vorteil am eben genannten Phänomen? Man kennt immer irgendjemanden, der jemanden kennt, der irgendwo wohnt, wo Union spielt. So kam es, dass sich am vergangenen Wochenende eine illustre Runde von (Exil-)Berlinern im schönen Badener Land versammeln sollte, um einem dort wohnhaften alten Grundschulkumpel (nennen wir ihn “die Axt“), der mir beim Bolzen auf dem Schulhof vor gut 17 Jahren meine erste zu nähende Wunde zufügte einen Besuch abzustatten und um ein wahrhaft cremiges Wochenende zu erleben - bin ja schließlich kein nachtragender Mensch.
Samstag:
Darüber hinaus zeichnet mich aus, dass mich so schnell nichts aus der Fassung bringt. Eine Charaktereigenschaft, die sich bereits am Samstag um sechs Uhr in der Früh auszahlen sollte, als zunächst die Berliner S-Bahn und anschließend mein werter Herr Cousin und Mitreisender (nennen wir ihn “Mr. T“) meine Nerven auf eine echte Zerreißprobe stellten. Die S-Bahn Anekdote ist schnell erzählt: Pendelverkehr in Richtung Hauptbahnhof, die daraus resultierenden und nicht eingeplanten 13 Minuten Wartezeit am Bahnhof Friedrichstraße plus Blick auf die Uhr ließen nur einen Schluss zu: Ab ins Taxi und das eh schon schmale Budget erstmalig belasten (Extraklasse die kurze Konversation mit dem nonchalanten Taxifahrer. “Wohin geht‘s?” - “Zum Hauptbahnhof, bitte!” - “Man, fährt da keene S-Bahn hin?”).
7 Euro und knapp 10 Minuten später enterte ich pünktlich um 6.20 zum vereinbarten Treffpunkt den Hauptbahnhof, genau 19 Minuten vor Abfahrt des Zuges gen Karlsruhe. Fehlte nur “Mr. T”. Der Mann mit den Fahrkarten und einer Tiefenentspanntheit, von der sich selbst der Dalai Lama auch nach Finden seines persönlichen Chis noch ‘ne Scheibe abschneiden könnte. Um 6.30 hauchte mir “Mr. T” übers tragbare mit einem unnachahmlichen Timbre, mit dem er sonst Idiome wie “mir egal”, “weiß nicht” und “mal gucken” fabuliert, ins Ohr, dass er verschlafen hätte und ich ruhig schon mal vorfahren solle. Alter, wer hatte noch mal gleich die Zugtickets?
Und dann geschah etwas, das in meinem Reisebericht zwingend Erwähnung finden sollte. In meiner Verzweiflung wandte ich mich an den Deutsche Bahn Service Point. Dieser niedliche Sprachenmischmaschname an sich ist bereits der blanke Hohn - Bahn und Service in einem Atemzug zu nennen ist normalerweise zumindest, naja, gewagt. Genaugenommen handelt es sich hierbei wohl eher um zwei Komponenten, für die der richtige Klebstoff erst noch erfunden werden muss. Aber dieses Mal war alles anders und der äußerst kooperative und freundliche Bahnmitarbeiter stellte mir seinen Internetzugang zur Verfügung und ließ mich hinter den heiligen Tresen, sodass ich mir das Onlineticket erneut ausdrucken konnte. Fetzig, es geschehen doch noch Zeichen und Wunder und fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges (IC) war ich tatsächlich mit einem hierfür gültigen Ticket ausgestattet. In etwa auf Höhe Bitterfeld teilte mir “Mr. T” mit, er würde jetzt einfach mit der Regionalbahn nach Karlsruhe fahren. Okay, warum nicht, ist ja umme Ecke. Eins vorweg: Das Wettrennen habe ich mit 4,5 Stunden Vorsprung gewonnen und die Aussage “Wir sind gut angekommen, nur halt nicht gemeinsam!” hat das Zeug zu einem echten Evergreen.
Sichtlich gestresst von seinem Wochenendticket-Mitfahrer Unterkieferfehlstellungs-Bülent, dessen Fragestellungen dem Vernehmen nach einer gewissen Redundanz nicht entbehrten und der die etwas aus der Mode geratene “Null-Problemo-Geste” von ALF in allen passenden und unpassenden Situation nachzuahmen pflegte, fiel “Mr. T” aus dem Regionalexpress. Da ich das Karlsruher Sightseeing bereits alleine bestritten hatte (Schloss, Rathaus, alter Markt, Platz der Grundrechte, badisches Staatstheater, Bundesgerichtshof, fertig!), konnte man sich gemeinsam den angenehmen Dingen des Lebens zuwenden: Tiefkühlpizza essen, Bier trinken. Und zusammen mit der mittlerweile aus Frankfurt/Main eingetroffenen “Axt” Kubas Freiheit feiern (eines muss man “Mr. T” lassen, eine sympathische Prioritätensetzung hat er. Keine Jacke dabei, die Zahnbürste vergessen, aber ‘ne Flasche Havanna Club unterm Arm. Respekt!), bevor es gegen 0.30 in die “Stadtmitte” ging. In Karlsruhe bezeichnet der Begriff “Stadtmitte” keinen U-Bahnhof mit kilometerlangem Fußgängertunnel, sondern eine Lokalität, in der ein Plattenunterhalter der Sorte “Mike the Psych” die krasseste Musik der 70’er, 80’er, 90’er und das allerbeste von heute auflegt und damit Menschen glücklich macht, “die eigentlich alles querbeet” hören. Also genau mein Ding. Exakt drei Mal kam ich auf meine musikalischen Kosten: Beatsteaks, Kings of Leon, No Doubt. Exakt diese drei Mal kam die “Axt” auf mich zu und sagte: “Die Musik wird langsam schlechter, wa?“
5 Stunden später ging ein dennoch extremst lustiger Abend zu Ende und man torkelte “granatenvoll”, wie die “Axt” im Stakkatotakt zum Besten gab, nach Hause.
Sonntag:
9.30, mein Wecker klingelt. Die “Axt” und “Mr. T” sind auf unterschiedliche Art und Weise noch nicht anwesend. Meine Aufgabe besteht darin, den letzten fehlenden Bestandteil der Reisegruppe vom Hauptbahnhof einzusammeln und auf dem Rückweg Brötchen zu besorgen. “Der Schwabe”, Exil-Berliner aus Stuttgart, erscheint gut gelaunt und ausgeschlafen zum vereinbarten Treffpunkt. Sein Auto mit Stuttgarter Kennzeichen und Berlin-Aufkleber hat er schon mal vorsorglich auf einem Parkplatz am Karlsruher Wildparkstadion abgestellt und damit die Wahrscheinlichkeit, am Ende des Tages einen ausgebrannten Wagen vorzufinden, um mindestens 150% gesteigert. Krasser Typ!
Es folgt ein Frühstück, bei dem Bouletten eine Hauptrolle spielen, die eher als Türstopper zu gebrauchen sind sowie ein mit abgestandener Cola gemischter Cuba, der nach Capri Sonne schmeckt. Auf dem Weg zum Stadion fasziniert uns anschließend ein Automat mit Greifarm, der einem für nur 1,20 € im Gegensatz zu seinen Rummel-Brüdern einen Hauptgewinn garantiert. Mit auf diesem Weg gewonnenem Rothaus-Pils nähern wir uns dem Wildparkstadion.
Sonntag, Fußball:
Es gibt nicht mehr viele Orte in Fußball-Deutschland, an denen die Uhr in den 70er-Jahren derart stehengeblieben ist wie in Karlsruhe. Und das meine ich als Freund alter Stadien und Arenen-Gegenentwürfe keineswegs abwertend. Eine große Haupttribüne mit bunten Sitzschalen kommt im Vergleich zu den unüberdachten Kurvenstehplätzen und der genialen Trabrennbahn-Gegentribüne noch am modernsten daher. Die sandigen Stehtraversen sorgen später im Verlauf des Spiels dafür, dass die Karlsruher Ultras in ihrer Bewegung stets von einer Staubwolke umhüllt sind, was gerade im Lichtschein der alten schicken Flutlichtmasten zugegebenermaßen ziemlich geil rüber kommt. Akustisch geht allerdings leider, wie man es von Stadion dieser Bauart her kennt, nicht viel. Die mangelnde Überdachung und die relativ große Entfernung in den Kurven zum Spielfeld sind Stimmungstöter und geben den modernen Arenen Daseinsberechtigungsargumente.
Auch mit einem Tag Abstand bin ich jedoch noch nicht dahintergekommen, wie solche Argumente für die seltsame Prozedur der Gästefanabtastung im Wildparkstadion aussehen könnten. Beim Betreten des Stadions wurde man das erste Mal gründlich gefilzt, vorm Eingang zum Gästeblock ein zweites Mal. Nach jedem Toilettengang, Getränke- oder Essenseinkauf und abermaligem Betreten des Gästeblockes wurde die Abtastprozedur wiederholt. Besonders hervorheben wollte sich dabei ein Ordner vom Typ asiatischer Teufel, der unserem “Schwaben” am liebsten noch die Bratwurst durchgekaut hätte, um sicherzugehen, dass da auch ja keine Wunderkerze oder Aufkleberchen drin versteckt ist. Verstehe, wer’s will…
Bevor ich mich nun der unehrenvollen Aufgabe nähere, die erste Halbzeit des Spiels schildern zu müssen, lasst mich noch eines kurz erwähnen. Bei der Präsentation der Karlsruher Mannschaft auf der Videoleinwand habe ich nach Einblendung des Portraitfotos des KSC-Spielers Alexander Iashvili einen Erkenntniszuwachs erlangt. Was genetisch wirklich versaut ist, kriegt nicht mal mehr Photoshop hin. Is so.
Zum Spiel: Wie soll man die ersten 45 Minuten dieses Kicks bloß zusammenfassen? Ich glaube, es führt kein Weg dran vorbei zu sagen, dass gut 1.000 mitgereiste Unioner die schlechtesten 45 Minuten am Stück seit ewigen Zeiten mit ansehen mussten. Vollkommen verdient lagen die Karlsruher nach einer halben Stunde mit 3-0 in Führung, weil es den Unionern nicht gelang, in den Zweikämpfen Paroli zu bieten, weil die Heimmannschaft immer wieder ungehindert über die Flügel gefährlich flanken konnte und weil Herr Stuff beim 0-2 nur Spalier lief. Unfassbar schlecht, die rot-weiße Performance bis zu diesem Zeitpunkt. Da hätte auch der 1-3 Anschlusstreffer, den Karim Benyamina eigentlich hätte erzielen müssen, als er kurz vor dem Pausenpfiff urplötzlich alleine auf den KSC-Keeper Miller zulief, nicht wirklich was dran geändert.
“Was sagt ein Trainer, dessen Mannschaft zur Halbzeit 0-3 auswärts zurückliegt, wohl in der Kabine?” fragte die der Sportpsychologie zugewandte “Axt” in die müde und demoralisierte Runde. “Wir fangen bei 0-0 an. Reißt Euch jetzt den Hintern auf und lasst Euch vor 1.000 mitgereisten, die 12 Stunden mit der Regionalbahn gefahren sind, nicht abschlachten und zeigt, dass Ihr Eier habt!” - so meine Antwort. Wir einigten uns auf die Begrifflichkeit “Cochones-Rede”, um unserem persönlichen Fußballlexikon einen weiteren Eintrag hinzufügen zu können.
Und “Uns Uwe” muss die knackigste “Cochones-Rede” aller Zeiten gehalten haben. Beeindruckend, wie mutig, frisch und offensiv die Unioner plötzlich aufspielten und wie nervös die KSC-Elf trotz souveräner 3-0 Führung wirkte. Mattuschka brachte uns per 11m wieder ins Spiel zurück (Kenan Sahin war tatsächlich 1x gefoult worden. Von den anderen grob geschätzten 57 Hinfallern im Strafraum roch kein einziger auch nur entfernt nach Strafstoß) und eben jener Sahin ließ nach einer per Kopf verwandelten Freistoßflanke noch einmal richtig Hoffnung aufkommen. Da wird doch nicht etwa noch ein Punkt zu holen sein? Nein, leider nicht. Weil Marco Gebhardts Freistoß-Schnibbel-Flanke nicht nur an Freund und Feind vorbei flog, sondern leider auch nur wenige Zentimeter am langen Eck. Und weil Karim Benyamina auch das zweite 1:1 Duell gegen Markus Miller verlor und somit eine weitere 100%ige Torchance eher kläglich versiebte. Schlusspfiff.
Sonntag, Fußball, Sensationshighlight:
So richtig war unser Appetit auf Fußball noch nicht gestillt, weswegen wir uns entschlossen, uns noch die letzten 35 Minuten vom Kreisklassespiel FSSV Karlsruhe gegen Kleinsteinbach II reinzuziehen. Der Sportplatz war dank der Ortskenntnis der “Axt” schnell gefunden, ein Glühwein für jeden bestellt und der Spielstand ermittelt. 4-1 für den FSSV, berichteten zwei Herren, zwischen denen es in Sachen Fürstenbergkonsum ungefähr 8-8 gestanden haben wird. Kaum hatte man den ersten Zug Glühwein genommen, stand es auch schon 4-2. Ein schöner Kopfballtreffer, nett rausgespielt. Dabei Smalltalk. Wie es denn so aussieht mit Gewalt auf Karlsruher Fußballplätzen, fragte ich. So schlimm wie in Berlin oder gehe ich Recht der Annahme, dass die “O-Weisch-Des-Pascht-Scho-Mentalität” der Leute hier dazu führt, dass alles ein wenig gediegener abläuft? Kaum hatte die “Axt” diese Annahme bestätigt, passierte das Unfassbare. Ich glaub, ich hab auch das Mosquera-Tor in Aachen unfassbar genannt. Unfassbar nannte ich in meinem Leben schon so einiges. Aber das hier auf dem Karlsruher Bolzplatz war dann wirklichwirklich unfassbar.
Der FSSV antworte mit wütenden Gegenangriffen auf den 2-4 Anschlusstreffer. Ein schöner Pass in die Lücke der Kleinsteinbacher Abwehr und in den Lauf des Stürmers ließ einem Gästeverteidiger keine andere Wahl als zu einem kleinen taktischen Foul zu greifen. Mit der gelben Karte war er jedoch nicht einverstanden, ging lamentierend und gestikulierend dem Schiedsrichter entgegen und beschwerte sich lautstark über die seiner Meinung nach zu harte Entscheidung. Und dann… und dann… Trommelwirbel … verpasste der Schiedsrichter ohne Vorwarnung und in Sekundenschnelle dem Gelbsünder eine schallende Ohrfeige, dass mir fast der Glühweinhumpen aus der Hand gefallen wäre. Ernsthaft, Bruce Lees Hände werden beim Kerzenlichtauslöschen mittels Windzugerzeugung auch nicht schneller unterwegs gewesen sein, als die rechte Hand des Schiedsrichters. Allgemeine Sprachlosigkeit auf dem Platz. Konsternierte Spieler, konsternierte Zuschauer, ein konsternierter Schiri. Und dann doch noch ein bisschen “Des-Pascht-Scho-Mentalität” - keine Massenschlägerei, kein malträtierter Unparteiischer, keine Zuschauerausschreitungen, keine wüsten Beschimpfungen. Stattdessen verließ die Kleinsteinbacher Mannschaft wortlos (oder sprachlos?) geschlossen den Platz. Spielabbruch nach 65 Minuten. Ich glaube, jetzt habe ich fußballtechnisch ALLES erlebt. Oder?
In Hamburg St. Pauli werde ich das in drei Wochen erstmalig überprüfen - Eisern!
(Kleiner Nachtrag von der Redaktion... tatsächlich war der Spieler Iashvili auch bei den Daheimgebliebenen in der Qbar ein gern aufgegriffenes Thema. In diesem Zusammenhang fielen dann immer wieder so Wörter wie "Tschernobyl" oder "Valuev"...)


