Ich habe es noch nicht ausprobiert, aber wie gut kommt man mit dem Wochenendticket, welches ja nur zur Fahrt mit Nahverkehrszügen berechtigt, von Hamburg nach Freiburg und wieder zurück? Was erstaunt denn eigentlich daran, dass die St. Paulifans, die mit der Bahn angereist sind, den ICE benutzt haben?
Eine Anreise mit dem ICE ist doch für eine Mannschaft nichts ungewöhnliches, wenn sie sich als praktischer erweist als eine Fahrt mit dem Mannschaftsbus. Da es in der Nähe von Freiburg keinen Verkehrsflughafen mit praktischer Anbindung gibt bietet sich in jeder Hinsicht der ICE als Reisemittel an.
Widerspricht das irgendeinem tatsächlichen oder herbeigefaselten Image des Vereins FC St. Pauli? Oder ist es einfach nur praktischer Menschenverstand der auch bei anderen Vereinen nichts ungewöhnliches ist?
Die Berichte über den Angriff im Bahnhof lese ich mit einer gewissen Skepsis, sogar als Sympathisant des FC St. Pauli. Weil eben solche Berichte, wenn sie Eingang in überregionale Medien wie etwa Spiegel Online gefunden haben, mit dem eigentlichen Ereignis oft nicht mehr viel zu tun haben. Andererseits ist es für mein Seelenheil wahrscheinlich besser, nicht zu wissen, wie viele sich insgeheim einen Ast freuen, wenn St. Paulifans Opfer von Gewalt werden. Auch wenn man es niemals offen zugeben würde!
Ich selbst wurde etwa von einem Haufen Nazischläger im Bahnhof Frankfurt-Sportfeld nach einem St. Paulispiel zusammengeprügelt. Auch am Boden wurde auf mich eingetreten, weil ich ja eine "Zecke" bin. Einige derer, die damals gestiefelt haben, trugen OFC-Utensilien. Deshalb ist mir der Verein Kickers Offenbach wie auch der Großteil seiner Anhänger bis heute nicht "widerlich". Aber es wundert mich auch nicht wirklich, dass solche Schläger dort zu finden waren und sind.
Was an St. Pauli einmal anders war, hat mir eben diesen Club vor Jahrzehnten schon zu einem Sympathieverein werden lassen. Im Umfeld des FC St. Pauli entwickelte sich ein antifaschistisches und antirassistisches Milieu, als noch viele Szenen einen festen Anteil von Neonazis hatten und rassistisches Gedankengut unwidersprochener Teil des Fußballumfelds war.
Heute hat sich vieles geändert, die Nazis sind aus den Stadien bei fast allen Vereinen verjagt worden oder verhalten sich zurückhaltend. Antirassismus ist eine generelle Leitlinie bei im Grunde allen Vereinen geworden. Während früher Fußball allgemein eher als Unterschichtensport angesehen wurde hat er sich für viele Bevölkerungsgruppen geöffnet, welche urprünglich damit nichts zu tun haben wollten. St. Pauli war und ist sicher ein Identifikationsverein für Menschen mit linksalternativer Grundeinstellung.
Über die Kommerzialisiereung des Images und die Entwicklung eines deutschlandweiten Markenbegriffes haben wir uns hier schon oft ausgetauscht. Wobei St. Pauli auch nichts anderes erlebte als viele andere Szenen, die vom Randphänomen zu einem Teil des Mainstreams geworden sind. In der Musik oder Kunst ist so etwas etwa gut zu beobachten.
Heute ist St. Pauli ein immer noch etwas ungewöhnlicher Verein, aber im Grunde ist er keine Avantgarde mehr. Wer heute noch im FC St. Pauli einen Hausbesetzerverein sieht, der hat nicht verstanden, dass die Achtziger längst Geschichte sind. Wobei es leider oft gar nicht darum geht, Dinge zu verstehen, wenn man einmal einen festen Standpunkt bezogen hat den man niemals mehr zu verlassen gedenkt.
Wie sehr St. Pauli polarisiert sieht man daran, dass über den SC Freiburg, der ja ebenfalls ein eher "alternatives" Image hat (was auch immer dran ist) nicht einmal annähernd so viele Reaktionen hervorruft. Wobei ich ja auch hier im Stammtisch schon mehr als eine Polemik gegen die "Gutmenschen" gelesen habe.
Jeder der ein wenig anders ist, ob im Aussehen, in den Ansichten oder in der Lebensweise, fordert das Spießertum heraus. Selbiges ist weder links noch rechts einzuordnen, es ist überall zu finden, wo das "Andere" nur Abwehreflexe hervorruft. Auch St. Paulifans können Spießer, Idioten oder einfach nur Arschlöcher sein. Die Zugehörigkeit zu einem Club macht niemand zum besseren Menschen. Aber was ich bei St. Pauli und seinen Anhängern in den letzten zwanzig Jahren erlebt habe reicht mir aus um immer noch mehr als nur eine Spur jenes Vereins zu finden, der tatsächlich einmal anders war. Wer das widerlich finden will - bitte ...
Viva St. Pauli!