Fußballfans sind keine Verbrecher!? Die Doppelmoral der deutschen Ultràszene
Am 9. Oktober findet in Berlin eine Demo zum Erhalt der Fankultur statt, an der neben den offiziellen Fanbündnissen „Unsere Kurve“, „B.A.F.F.“ sowie „Pro Fans“ auch diverse deutsche Fangruppen teilnehmen werden, die größtenteils der Ultràszene zuzuordnen sind. Die Mönchengladbacher Ultràszene hat sich geschlossen gegen eine Teilnahme entschieden – die Gründe für diese Entscheidung werden wir euch an dieser Stelle darlegen…
Wir schreiben das Jahr 2005 und ganz Fußballdeutschland fokussiert sich langsam aber sicher auf die WM im eigenen Land. Bereits zu diesem Zeitpunkt zieht der Repressionsmechanismus seitens des Staates seine Kreise über die aktive Fanlandschaft Deutschlands. Von „Null Toleranz“ und einem „konsequenten Vorgehen gegen Hooligans“ ist die Rede, was jegliche Medien dankend annehmen, die auf der Suche nach einer sensationellen Titelstory nach Leibeskräften polarisieren. Eine Situation, die die aktive Fanszene nicht schweigend hinnehmen wollte und so organisierte man am Rande eines Confed-Cup-Spiels in Frankfurt eine Demonstration für den Erhalt der Fankultur, an der sich fast alle großen deutschen Szenen beteiligten. Unter dem Motto „Getrennt in den Farben - vereint in der Sache" fanden sich mehrere Hundert Fans, meist aus dem Ultràspektrum, in Frankfurt zusammen, um gegen die Repressionsmaschinerie und das negative Bild des Fußballfans in den Medien zu demonstrieren. Auch ein Bus aus Mönchengladbach reiste an diesem Tag an, da wir uns zu diesem Zeitpunkt in vollem Maße mit den Forderungen identifizieren konnten.
Nun schreiben wir das Jahr 2010 und rund fünf Jahre nach dieser Demo muss man festhalten, dass sich die gegenwärtige Lage in und um die deutschen Stadien nicht verbessert, sondern stetig verschlechtert hat. Mediale Polarisierung, Knüppel aus dem Sack und Stadionverbote soweit das Auge reicht – der aktive Stadiongänger gilt auch weiterhin und mehr denn je als gemeingefährlicher Hooligan und „sogenannter Fußballfan, der in einem Stadion nichts verloren hat“. Man will ein kontrollier- und überschaubares Klientel und keine selbstständig denkenden Individuen, die nicht einfach alles so hinnehmen wie „von oben“ vorgegeben und die von einem kritischen Standpunkt aus auch mal „die falschen Fragen“ stellen und „dagegen“ sind.
Es herrschen also Zustände, die eigentlich Grund genug dafür wären, gemeinsam auf die Straße zu gehen, definitiv. Doch viele derjenigen, die nun an der kommenden Demonstration teilnehmen, scheinen vor der gegenwärtigen Entwicklung der Ultràszenen in Deutschland konsequent die Augen zu verschließen. Denn während von Jahr zu Jahr die Repressionen, denen sich der aktive Fan ausgesetzt sieht, immer stärker werden, haben sich auch die Fan- und vor allem Ultràszenen deutschlandweit stark verändert. Zwar ist man älter und reifer geworden, jedoch hat sich im gleichen Zug auch das Ultràtum stetig vergrößert und ist dabei ein ganzes Stück radikaler geworden und auch seine Werte scheinen sich deutlich gewandelt zu haben. Heutzutage werden Kleingruppen angegriffen und Einzelpersonen aus dem Hinterhalt krankenhausreif geschlagen. Das allgemein bekannte Spiel vom „jagen & sammeln“ scheint dabei genauso obligatorisch wie das lautstarke Intro zu Spielbeginn und Fahnen werden nicht im Kampf, sondern hinterlistig und feige durch einen Einbruch erbeutet. Der Ultrà im Jahr 2010 plündert Raststätten, schießt mit Leuchtspur um sich und bricht danach mit einem säuberlich antrainierten Kick seinem gegenüber das Nasenbein – allesamt kriminelle Handlungen, die unter dem Deckmantel des Ultràtums verübt werden. Im ewigen Schwanzvergleich der deutschen Ultràszenen und im Streit um die Frage, wer denn hier die dicksten Eier hat, scheint kein Platz mehr für Werte und Ideale zu sein, die die Ultràszene eigentlich über viele Jahre hinweg ausmachten.
Wie absurd, ja lachhaft klingt da doch der Schlachtruf „Fußballfans sind keine Verbrecher!“, der im Zuge der Demo aus hunderten Kehlen ertönen wird?! Natürlich halten auch wir viele Maßnahmen der Polizei für vollkommen überzogen und willkürlich und natürlich sind auch wir gegen Repression, Medienhetze und für den Erhalt der Fankultur, keine Frage. Doch bevor man dafür eine Demo ins Leben ruft, sollte man sich zuerst einmal klar werden, dass noch so gut ausgearbeitete und formulierte Ziele niemanden erreichen, so lange man nicht ernst genommen wird – und vielleicht auch einfach nicht ernst genommen werden kann. Jeder derjenigen, der der Wahrheit ins Auge sieht und sich eingesteht, wie es momentan um die Ultràszene in Deutschland bestellt ist, der wird erkennen, dass die im Rahmen dieser Demo gestellten Forderungen unter Berücksichtigung der derzeitigen Situation keinerlei Legitimation besitzen. Jeder Ultrà, der als Repräsentant seiner Gruppe mit gutem Gewissen bei dieser Demo erscheint, belügt sich nicht nur selbst, sondern verliert auch seine Glaubwürdigkeit. Sätze wie: „Klar gibt es einige schwarze Schafe“ und „Wir distanzieren uns von Gewalttaten“ sind nur noch scheinheiliger und heuchlerischer Schwachsinn, der schon längst nicht mehr ausreicht, um die gegenwärtige Entwicklung unserer Kultur zu rechtfertigen. Da grenzt es schon fast an eine Farce, dass sich bei der Demonstration gerade eine Szene in den Mittelpunkt drängt und kräftig die Werbetrommel rührt, die sich doch sonst nicht mit Ruhm bekleckert – doch auch hier zeigt sich dann letztendlich, wer zu dem steht was er macht und wer eben nicht.
Darüber hinaus ist unserer Meinung nach die deutsche Szene viel zu zerrüttet, um sich authentisch und geschlossen positionieren zu können. Besonders in den letzten Jahren wurden von allen Seiten auf verschiedenen Ebenen Grenzen überschritten, die gegenwärtig einen respektvollen Umgang unter Ultras gänzlich unmöglich machen. Für uns haben sich viel zu viele Dinge drastisch verändert, um nun noch eine gemeinsame Basis finden und sich ein gemeinsames Ziel auf die Fahne schreiben zu können. So lange die deutsche Ultràszene sich nicht darüber im Klaren ist, dass das gegenwärtige Verhalten unser aller auch gewisse Konsequenzen nach sich zieht. So lange wir durch unser eigenes Verhalten unseren Forderungen den Nährboden entziehen – so lange hat eine Demo keinen Sinn und wird auch nichts erreichen, nichts ändern können.
So geht unser Respekt an dieser Stelle gerade an die Gruppen und Szenen, die nicht an der Demo teilnehmen. Auch sie scheinen erkannt zu haben, dass sich hier größtenteils selbst belogen wird und es noch einer Menge szene(n)interner Arbeit bedarf, bis man ein solches Projekt wirklich ernsthaft und glaubwürdig angehen kann.
Ultràszene Mönchengladbach, im Oktober 2010